Audi BKK Online Magazin

schwerpunkt

Mikrobiom.

Wir sind
nicht allein.

Man sieht sie nicht, obwohl sie uns zahlenmäßig überlegen sind. Man möchte nichts mit ihnen zu tun haben, obwohl sie für unsere Gesundheit nützlich sind. Die Rede ist von der individuellen Bakterienvielfalt, unserem Mikrobiom.

Beim Wort „Bakterien“ schrillen bei den meisten von uns die Alarmglocken. Am besten sofort Hände waschen oder lieber gleich komplett desinfizieren! Dabei deuten neueste wissenschaftliche Untersuchungen darauf hin, dass es Zeit wird für ein Umdenken. Forscher untersuchen zurzeit, welchen Einfluss Bakterien auf Gesundheit und Wohlbefinden tatsächlich haben. Und die Erkenntnisse sind erstaunlich: Unsere kleinen Mitbewohner geben in großen Bereichen unseres Lebens offenbar unbemerkt den Ton an. Sie beeinflussen, worauf wir Appetit haben, wie viel wir wiegen und sogar, in welcher Stimmung wir sind.

99%

aller Bakterien meinen es gut mit uns!

Insbesondere ein Organ steht im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses: der menschliche Darm. Immerhin rund 90 Prozent aller Bakterien, die den Menschen besiedeln, leben genau hier in den Windungen und Zotten dieses 5,5 bis 7,5 Meter langen Verdauungsorgans. Die Bakterien gehören rund 1.000 verschiedenen Stämmen an, dabei hat jedes Bakterium seinen eigenen Stoffwechsel. Sie vermehren sich durch Zellteilung und reagieren ganz individuell auf Umweltreize. Zwischen 50 und 100 Billionen nutzen unsere Gastfreundschaft, die überwiegende Mehrzahl von ihnen wohnt in unserer Körpermitte. Dem Mikrobiom kommt damit im Hinblick auf die menschliche Gesundheit eine Schlüsselrolle zu. Berühmte Heilkundige wie Hippokrates, Hildegard von Bingen und Paracelsus haben dies schon früher vermutet. Jetzt legt die Mikrobenforschung mit wissenschaftlichen Ergebnissen nach. Was sie anhand von Untersuchungen mit Mäusen zeigen kann, eröffnet neue Wege in der Medizin. Falsch wäre, die Ergebnisse zum jetzigen Zeitpunkt einfach auf den Menschen zu übertragen. Dennoch scheinen beispielsweise Übergewicht und Diabetes mellitus Typ 2, beides Symptome des metabolischen Syndroms, in Beziehung zu einem in Schieflage geratenen Mikrobiom zu stehen.

Übrigens: Beim Küssen tauschen wir Millionen von Bakterien aus. Die Zahl der Immunzellen im Blut ist danach messbar erhöht. Küssen ist also ziemlich gut für das Immunsystem.

Die Vielfalt des Mikrobioms ist offenbar ein entscheidender Faktor für die Gesundheit. Eine natürliche Geburt, Stillen und (früh-)kindlicher Kontakt zur Natur wirken sich positiv auf die Bakterienvielfalt aus und verringern das Risiko, an anderen Zivilisationskrankheiten, darunter Autoimmunerkrankungen und Allergien, zu erkranken. Eher schlecht ist eine Ernährung mit einer großen Menge an Zucker und Fett. Denn dadurch wird die Vielfalt der im Darm lebenden Mikroben offenbar eingeschränkt.

Menschen, die in Afrika oder im Amazonasgebiet leben, haben übrigens eine viel größere Bakterienvielfalt als die Menschen in Nordamerika oder Europa. Zu diesem Ergebnis kommen wissenschaftliche Teams, die dafür weltweit Proben genommen und sie miteinander verglichen haben. Die bislang höchste Fülle wurde bei den Yanomami, einem indigenen Volk im südamerikanischen Urwald, entdeckt. Das hat einen praktischen Nebeneffekt: Ihre Widerstandsfähigkeit gegen Diabetes, Allergien, Asthma und andere Immun- und Stoffwechselkrankheiten scheint der unseren deutlich überlegen zu sein. Gehen bestimmte Bakterienstämme verloren, bilden die übrig gebliebenen vermehrt bestimmte Stoffwechselprodukte, die im Laufe eines Lebens zu Beschwerden und Erkrankungen, wie zum Beispiel Adipositas und Diabetes mellitus Typ 2 führen könnten, vermuten Wissenschaftler.

Erstaunlich ist auch eine andere Beobachtung: Jedes Mikrobiom ist einzigartig, sogar bei eineiigen Zwillingen. Zwar ist ihr Erbgut nahezu identisch. Dennoch setzen sich ihre Darmbakterien ganz unterschiedlich zusammen. Das liegt vor allem an der individuellen Lebensweise. Sie bietet Chancen und Risiken. Denn ganz egal, was es ist: Einfach alles, was uns im Alltag begegnet, hat einen Einfluss darauf, wie sich die kleinen Lebewesen in uns entwickeln. Der Startschuss fällt, sobald die Fruchtblase platzt, die das Baby im Bauch der Mutter vor Keimen schützt. Umgehend docken Bakterien an die Oberflächen der Körperzellen an. Die ersten stammen aus dem Geburtskanal oder werden bei einem Kaiserschnitt aus dem Hautmikrobiom der Mutter gebildet. Je nachdem, wie die Geburt abläuft, können Anzahl und Artenvielfalt der ersten mikrobiellen Besiedelung variieren. Weitere Bakterienarten werden anschließend aus der Außenwelt übernommen. Bis sich daraus neue Generationen entwickeln, dauert es manchmal nur 20 Minuten. Darunter sind gute und weniger gute Organismen, aus denen sich bis zum dritten Lebensjahr eine Art Stammmannschaft im Darm des Kleinkindes formiert. Dieses Team besitzt Fähigkeiten, von denen der Mensch bis ins hohe Alter profitieren kann. Vorausgesetzt, er sorgt dafür, dass sich seine kleinen Freunde immer wohl bei ihm fühlen.

5 wichtige Tipps:

So bleibt das Mikrobiom
in Top-Form!

01
Am besten gesund essen.

Wissenschaftler konnten an Mäusen beobachten, dass bei einer einseitigen, ballaststoffarmen Ernährung Zahl und Vielfalt der Darmbakterien von Generation zu Generation abnehmen.

02
Raus ins Grüne!

Kinder, die im Dreck spielen, leben gesünder. Die meisten Bakterien aus der Natur sind nämlich harmlos. Das Immunsystem lernt sie kennen und toleriert sie bei späterem Kontakt.

03
Abwechslung.

Zu viel Fleisch, Salz, Fett und Zucker lassen die Darmflora verarmen. Gemüse und fermentierte Lebensmittel dagegen sind die Lieblinge auf dem bakteriellen Speiseplan.

04
Antibiotika nur bei
ärztlicher Verschreibung
und tatsächlichem Bedarf!

Antibiotika beeinflussen die Zusammensetzung der Darmbakterien in dramatischer Weise. Viel Zeit braucht das nicht: Schon nach einer Woche Einnahme sind viele der Einzeller verschwunden. Ihr Platz wird dann von neuen Arten eingenommen. Und oft dauert es Monate, bis sich wieder ein Gleichgewicht eingestellt hat. Mit diesem Trickfilm versteht das jedes Kind.

05
Kein Stress.

Ausreichend Schlaf und regelmäßige Bewegung an der frischen Luft bieten im Alltag einen gesunden Ausgleich. Das kann für ein artenreiches Mikrobiom hilfreich sein. Wo sich ungesunde Lebensgewohnheiten durchsetzen, nimmt auch die mikrobielle Vielfalt langfristig ab.

Experteninterview

Krankheitserreger? Von wegen! Es ist Zeit für einen Imagewechsel.

Im Gespräch mit Prof. Dr. Dieter Jahn, Professor für Mikrobiologie an der TU Braunschweig.

Bakterien – bei diesem Stichwort denken wohl die meisten Menschen zuerst an Krankheitserreger. Tatsächlich können viele dieser Mikroorganismen aber verhindern, dass sich gefährliche Keime in uns ausbreiten. Was steckt dahinter?

Prof. Dieter Jahn: Der sogenannte Kolonisationsschutz ist ein überaus sinnvoller Effekt, der auf das Konto der meisten Bakterien geht. Um es in Zahlen auszudrücken: 99 Prozent der auf der Welt lebenden Bakterien meinen es gut mit uns. Wo sie existieren, haben Krankheitserreger keinen Platz. Dass Bakterien in der Öffentlichkeit bislang mit Erkrankungen und Beschwerden in Verbindung gebracht wurden, hat etwas mit den medizinischen Erfolgen gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu tun. Mikrobiologen wie Robert Koch und Louis Pasteur gelang es damals, wichtige Erreger zu identifizieren, darunter die der Pest, Cholera und Tuberkulose. In dieser Zeit war das eine Sensation, weil dadurch viele dieser Krankheiten, die bis dahin mit dem Tod endeten, eingedämmt werden konnten.

Es findet ein Umdenken statt: Sie sagen, Bakterien seien unsere kleinen Freunde, die wir lieben und pflegen sollten.

Prof. Dieter Jahn: Menschen gießen ja auch ihre Blumen oder sorgen für ihre Haustiere. In beiden Fällen handeln sie aus Verantwortungsbewusstsein. Bakterien sind ziemlich aktive Lebewesen, daran sollten wir tatsächlich denken. Nur weil sie winzig klein sind, heißt das ja nicht, dass sie keine Bedürfnisse hätten. Wir wissen inzwischen, wozu sie in der Lage sind, wenn die Bedingungen stimmen. Das fängt bei der Verdauung an und endet mit der Immunabwehr. Wo sie können, helfen sie uns, gesund zu bleiben.

Bakterien

verdienen unsere Beachtung und Unterstützung. Dafür gibt es gute Gründe!

Bakterien sind tatsächlich enorm klein: Eine Millionen Exemplare passen auf eine einzige Nadelspitze. Das ist schon beeindruckend. Was hält diese Winzlinge bei Laune? Und wann stimmt etwas mit ihnen nicht?

Prof. Dieter Jahn: Bakterien teilen sich einen gemeinsamen Raum. Dass das nicht unbedingt einfach ist, kann wohl jeder in einer Wohngemeinschaft bestätigen. Umso wichtiger ist, dass alle Bewohner auf ihre Kosten kommen. Wir verstehen die Wechselbeziehungen zwar noch nicht vollständig, aber bislang gilt: Je mehr unterschiedliche Spezies von Bakterien es in uns gibt, desto stabiler ist das Ökosystem – und desto stärker können wir von ihren Fähigkeiten profitieren.

Können wir etwas tun, um die mikrobielle Vielfalt in uns zu unterstützen? Geht es um die Gesundheit, werden ja oft Probiotika ins Spiel gebracht.

Prof. Dieter Jahn: Zu viel Fleisch, Zucker und salziges Essen beeinträchtigen das Mikrobiom. Neben dieser Fehlernährung spielen Antibiotika und übertriebene Hygiene eine Rolle. Ein gestörtes Gleichgewicht im Darm kann das Risiko für eine chronische Erkrankung langfristig erhöhen. Eine gesunde, faserreiche Ernährung ist dauerhaft wohl am besten. Bakterien lieben Ballaststoffe. Davon sollten wir ihnen täglich 30 Gramm geben, statt Probiotika zu nehmen. Eine Scheibe Vollkornbrot, ein Apfel oder eine Karotte ist das, was sie glücklich macht.

Vielen Dank für das interessante Gespräch!

Die neue DNA des Menschen.

Bakterien sind in Gemeinschaft lebende Mikroorganismen mit unterschiedlichen Fähigkeiten. Welche das sind, können Wissenschaftler in den Genen dieser Organismen lesen. So entsteht ein Profil, unverwechselbar und einzigartig wie ein Fingerabdruck. Und äußerst bedeutsam für die Gesundheit.

Insgesamt 2 kg

bringen Darmbakterien als Biomasse auf die Waage und produzieren ein Drittel der Moleküle in unserem Blut. Über die Darmwand gelangen diese Stoffe in den Blutkreislauf. Dadurch scheinen sie bei vielen Vorgängen im menschlichen Körper eine Art Mitspracherecht zu haben. Das lässt sich positiv beeinflussen, sagen Wissenschaftler. Sie raten deshalb zu einer nachhaltig gesunden Ernährung.

Im Darm leben 90 %

der uns besiedelnden Bakterien. Daraus ergeben sich drei Gruppen, die sogenannten Enterotypen. Unterschiede zwischen dem Bacteroides-, Prevotella- und Ruminococcus-Typ scheinen darin zu bestehen, wie effektiv die jeweilige Bakterienart Energie aus der Nahrung gewinnt und welche Vitamine sie in welchen Mengen produziert.

Warum ein Mensch einer bestimmten Gruppe angehört und ob er seinen Darmtyp im Lauf des Lebens wechseln kann, erforschen Wissenschaftler momentan.

Mikrobieller Stempel.

Ein gesunder Mensch verteilt etwa 37 Millionen Bakterien pro Minute in seiner Umgebung. Wissenschaftler konnten rund 7.700 Bakterienstämme auf Haushaltsgegenständen wie Türklinken, Küchenbrettern und Kissenbezügen nachweisen und so ganze Wohnungen ihren Bewohnern zuordnen. Zwar ist die Methode noch nicht ausgereift, Wissenschaftler halten es aber für denkbar, dass sich daraus ein neues forensisches Werkzeug entwickeln lässt.

Mit circa 3 Mio.

Genen sind uns unsere Darmbakterien haushoch überlegen. Dass sie damit in der Lage sind, wichtige Aufgaben im menschlichen Organismus zu übernehmen, kommt uns zugute: Sie helfen bei der Verdauung, indem sie Enzyme produzieren und Ballaststoffe in Bestandteile zerlegen, die der Körper aufnehmen kann. Als Trainingspartnerfür das Immunsystem sorgen sie dafür, dass sich unsere körpereigene Abwehr richtig entwickelt. Auf der Darmschleimhaut wirken sie als Schutzschild gegen Krankheitserreger. Sie tragen zum Wohlbefinden bei, weil sie eine Vielzahl von Substanzen produzieren, darunter Glückshormone, die über die Darmwand in den Blutkreislauf gelangen.

Mehr Informationen zum menschlichen Mikrobiom und seiner Bedeutung finden Sie auch in der 5-teiligen Reihe der Zeit "Leben auf dem Menschen".

Weitere Themen:

Mehrere rötliche Kapseln.

Antibiotika.

Sie bekämpfen Bakterien. Gegen Viren sind sie machtlos. Durch Antibiotika klingen Beschwerden schnell ab.

Mehr

Glas mit eingemachten grünen Bohnen.

Fermentieren ist Trend.

Wie man das Gemüse im Glas haltbar macht und warum das Ganze äußerst gut für den Darm ist? Jetzt reinlesen.

Mehr

tags

weitersagen