Audi BKK Online Magazin

schwer­punkt

Unendlich allein!?

Wege aus der
Einsamkeit.

Über Einsamkeit redet man nicht!? Ändern wir gemeinsam unsere Einstellung dazu. Wer mit anderen darüber spricht fühlt sich weniger allein – und ist weniger krank. Das belegen über 148 Studien aus den USA, Europa, Asien und Australien.

Denken Sie einmal kurz an einen einsamen Menschen. Was erscheint vor Ihrem inneren Auge? Eine alte Frau, die stumm in einem abgewetzten Sessel sitzt und gedankenverloren aus dem Fenster in den regenverhangenen Himmel blickt?

Mit dieser Vorstellung sind Sie nicht allein. Nur: Sie spiegelt die Realität schon vor der Corona-Krise nur unzureichend wider. Zwar ergab eine Studie der Ruhr-Universität Bochum 2016, dass sich in Deutschland jeder Fünfte über 85 Jahren einsam fühlte. Aber Einsamkeit war nicht nur für die Senioren ein Problem: Bei den Middle Agern litt demnach jeder Siebte unter dem Alleinsein. Und schon unter den 26- bis 35-jährigen fühlten sich rund 15 Prozent zeitweise sozial isoliert. Besonders problematisch: Vereinsamung wird laut Umfragen von jüngeren Menschen viel schmerzhafter wahrgenommen als von Menschen mit mehr Lebenserfahrung. Zu wissen, dass man persönliche Krisen meistern kann, das ist wirklich ein Privileg des Alters.

Auffallend oft fühlen sich junge Männer einsam. Das stellte ein Forschungsteam der Universitäten Manchester, Exeter und Brunel fest, welches 46.000 Menschen im Alter von 16 bis 99 Jahren zu ihrem Wohlbefinden vor und während der Corona-Krise befragte. Bereits in einer deutschen, bundesweiten Studie 2014 stach dieser Einsamkeitstyp heraus. Viele Männer definieren sich stark über Partnerschaft, Karriere und materielle Dinge. Freundschaften werden eher zweitrangig behandelt. Verliert der aufstrebende Workaholic seine Arbeit oder Freundin, fehlt ein soziales Netz, das ihn auffängt. Kommen junge Frauen besser zurecht? Als alleinerziehende Mütter rutschen auch sie in die Einsamkeitsfalle. Zwischen Job, Kindern und Haushalt findet sich kaum Raum für sozialen Austausch.

Im Zuge der Corona-Pandemie rollt weltweit eine neue Einsamkeitswelle heran. Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbot, Home-office und Social Distancing – das Virus drängt uns, soziale Kontakte auf ein absolutes Minimum zu beschränken. Mit dramatischen Folgen: Laut einer aktuellen Studie fühlte sich rund die Hälfte der Deutschen während des Corona-Lockdowns einsam. Für viele ein neues Gefühl. Und ein wachsendes gesellschaftliches Problem, denn unsere Ge-sellschaft wird ohnehin immer mehr geprägt von Single-Haushalten, wachsender Mobilität und übersteigertem Individualismus.

Was ist Einsamkeit genau? Das Gefühl ist nicht vergleichbar mit dem objektiven Zustand des Alleinseins. Man ist nicht einsam, nur weil andere Menschen momentan abwesend sind. Einsam ist, wer sich tiefere Beziehungen wünscht, aber nicht hat. Man kann zu Hause allein sein und dabei sehr glücklich – oder sich auf einer Party inmitten vieler Menschen furchtbar einsam fühlen. Ein Gefühl, dass krank macht. Und das im wahrsten Sinne des Wortes.

Über 148 Studien aus den USA, Europa, Asien und Australien weisen u. a. nach, dass Einsamkeit so gesundheitsschädlich ist wie das Rauchen von 15 Zigaretten täglich. Wer sich chronisch einsam fühlt, entwickelt Stresssymptome, Übergewicht und Schlafprobleme. Das hängt laut den Psychologen Julianne Holt-Lunstad und Timothy Smith von der Brigham Young University auch damit zusammen, dass Einsame nicht gut genug auf sich achtgeben. Für wen auch?

Das Risiko früher
zu sterben:

Einsamkeit und Isolation haben den größten negativen Einfluss auf unsere Lebenswerwartung, noch vor den gängigen und gut untersuchten Gesundheitsrisiken.

5 % durch Luftverschmutzung, 20 % durch Fettleibigkeit, 30 % durch starker Alkoholismus und 60 % durch soziale Isolation

Quelle: Bayrischer Rundfunk, DasErste.de

Allein sein:
eine Chance zum Neubeginn.

Aus diesem Grund erhöhe sich auch die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken oder einen Schlaganfall zu erleiden, signifikant. Amerikanische Forscher der Harvard Universität stellten fest, dass Alleinstehende ein 24 Prozent höheres Risiko haben, an einem Herzleiden zu sterben, als Menschen in einer Beziehung. Und Wissenschaftler der Universität Chicago fanden heraus, dass sich bei chronisch Einsamen die Blutgefäße verengen und der Blutdruck dauerhaft erhöht ist. Wer einsam lebt, fühlt sich also zunehmend schlecht. Und das nicht nur körperlich. Die mangelnde Fitness schlägt Betroffenen schwer auf die Seele, vor allem, weil sie kaum darüber reden können. Und diese Negativität ist ansteckend: Eine US-Studie unter Leitung des bekannten Neurowissenschaftlers John Cacioppo enthüllte, dass Menschen, die viel Zeit mit Einsamen verbringen, selbst mehr und mehr Sozialkontakte verlieren.

Cacioppo, bis zu seinem Tod 2018 eine Koryphäe auf dem Feld der Einsamkeitsforschung, schreibt in seinem Werk „Einsamkeit. Woher sie kommt, was sie bewirkt, wie man ihr entrinnt.“, dass soziale Isolation die Lebenserwartung von Menschen und allen sozialen Tierarten deutlich verringere. Allein zu sein, stellt der Experte klar, sei nicht nur gefährlich, sondern tödlich.

Aber warum hat Einsamkeit diese starken Auswirkungen auf unser Wohlbefinden? Ganz einfach: Das moderne Leben liegt uns nicht in den Genen. Unsere Urahnen waren eng verbunden mit Stamm und Sippe. Gemeinsam jagte man Wild, gemeinsam saß man am Feuer, gemeinsam ließ man sich an einem neuen Ort nieder. Auf sich allein gestellt hätten unsere Vorfahren in einer rauen Umwelt voller Gefahren nicht überleben können. Das evolutive Erbe wirkt bis heute und begründet unsere körperliche und mentale Prägung als soziales Wesen. Wir sind auf Gemeinschaft gepolt, organisieren uns in Beziehungen – und stürzen noch immer in echte Verzweiflung, wenn wir uns verlassen fühlen.

Sind wir dem Gefühl der Vereinsamung als „Stammeswesen“ also hilflos ausgeliefert? Nein, selbst in Corona-Zeiten, in denen wir die vielen Veränderungen unseres Alltags nicht beeinflussen können, finden wir selbstbestimmt und aktiv aus der Isolation heraus. Der Weg aus der Einsamkeit beginnt bei uns selbst. Und er startet mit „Positive Thinking“: Alleinsein kann auch eine Chance sein, sich neu zu orientieren. Zu Hause wartet niemand auf Sie? Dann ziehen Sie in eine WG oder ein Mehr-Generationen-Haus, machen Sie eine Gruppenreise oder einen Volkshochschulkurs. Gemeinsame Interessen schaffen gemeinsame Gesprächsthemen. Online-Seminare, Corona-sicheres Reisen oder Sporttreiben und die vielfältigen Möglichkeiten der sozialen Medien ermöglichen es uns auch in der aktuellen Pandemie, mit anderen in Kontakt zu treten. Und das tut gut. Auch unser Körper besitzt erstaunliche Heilkraft: Sobald wir wieder jemanden in den Arm nehmen, schüttet er das Kuschelhormon Oxytocin aus, dass uns ein wohliges Gefühl schenkt. Also: Gehen Sie raus, machen Sie neue Erfahrungen, probieren Sie Dinge aus, lernen Sie Menschen kennen, bauen Sie neue Beziehungen zu Gleichgesinnten auf – und finden Sie am Ende zu sich selbst.

Schritte zurück
ins Leben

Nicht immer lässt sich Einsamkeit verhindern. Aber Sie können sich Schritt für Schritt weniger allein fühlen – wenn Sie aktiv dagegen angehen. Das alltagstaugliche EASE* Stufenprogramm des amerikanischen Wissenschaftlers John Cacioppo hilft Ihnen dabei.

*EASE: E – Erweitern des Aktionsradius, A – Aktionsplan, S – Selektieren, E – Erwartung des Besten

Eine Person mit anderen um sich herum

Erweitern Sie Ihren
Aktionsradius!

Das Tempo auf Ihrem Weg aus der Einsamkeit bestimmen Sie selbst. Beginnen Sie mit kleinen Schritten: Ein Gespräch am Gartenzaun, ein Lächeln an der Supermarktkasse, das alles hilft, um Mut zu schöpfen und weiter auf Menschen zuzugehen.

Sprechblasen

Reden Sie drüber

Die Einsamkeit macht Sie krank? Reden Sie darüber. Es gibt keinen Grund, sich für Lebensumstände zu schämen. Gehen Sie offen damit um. Sie werden erstaunt sein, wie viele Menschen in Ihrem Umfeld das Gefühl des Alleinseins kennen und verständnisvoll reagieren – vielleicht sogar mit konkreten Vorschlägen für mehr Gesellschaft.

Eine Person unter vielen

Werden Sie aktiv!

Vereine, Volkshochschulkurse, Gruppenreisen, Ehrenamtliches…
Teil einer Gemeinschaft zu werden, ist gar nicht so schwer. Das Beste daran: Sie lernen Leute kennen, die Ihre Interessen und Leidenschaften teilen. Da findet sich schnell ein Gesprächseinstieg.

Eine Person, die an positives denkt

Erwarten Sie das Beste!

Denken Sie stets positiv, auch wenn Sie Rückschritte machen und nicht bei jedem gut ankommen. „Wird schon werden.“ ist immer besser als „Das geht bestimmt schief.“ Wer Zuversicht und Optimismus ausstrahlt, wird überall gern gesehen.

Eine Person mit Freunden

Seien Sie wählerisch!

Sie brauchen nicht viele Kontakte, um sich weniger einsam zu fühlen. Umgeben Sie sich lieber nur mit einer Handvoll Menschen, die Ihnen wichtig sind. Dann haben Sie auch genug Zeit und Energie, in diese Freundschaften zu investieren.

Schon auf den Hund
gekommen?

Sie haben gerade nicht die Kraft, auf andere Menschen zuzugehen?
Dann denken Sie über einen vierbeinigen Freund nach. Hund, Katze oder Maus – mit einem Haustier fühlt man sich auch in den eigenen vier Wänden nicht allein.

Haustiere sind in Ihrer Wohnung nicht erlaubt?
Das Tierheim freut sich über jeden Besucher, der ab und zu mit herrchenlosen Bewohnern spazieren geht. Die Tiere spenden Trost und Sie haben wieder eine Aufgabe. Und wer weiß, wen Sie demnächst auf der Hundewiese oder beim Tierarzt kennenlernen? Lassen Sie das Leben auf sich zukommen.

Einsamkeit – überall auf der Welt zu Hause.

Der Wunsch nach Nähe, Freundschaft und Zugehörigkeit eint Menschen über Ländergrenzen hinweg. Auf der ganzen Welt leidet man unter Einsamkeit, aber nicht überall geht man gleich damit um. Was tut man woanders gegen das Alleinsein? Gehen Sie mit uns auf eine lehrreiche Exkursion.

15 % glücklicher wird man selbst, wenn man sich mit einem glücklichen Menschen umgibt.*

Chile – gemeinsame Trauer

Stirbt ein Partner, ist der/die Zurückgebliebene auch in Chile einsam. Mit festen, christlichen Ritualen behalten die Verwitweten aber ihren Platz in der Familie und dörflichen Gemeinschaft: Der Hinterbliebene stellt Bilder des/der Verstorbenen mit Heiligenbildern auf einen Hausaltar und umsorgt diesen täglich. Dabei spricht er auch Fürbitten für seine Angehörigen. Der Witwer kümmert sich so um das Wohlergehen der Familie, und darüber wird wohlwollend gesprochen, auch in der Nachbarschaft. Einsamkeit ist hier nicht nur eine Privatangelegenheit. Der Einsame erhält Zuspruch und Anerkennung. Ein gutes Gefühl.

USA (Los Angeles) – „People Walker“

In einer einsamen Phase seines eigenen Lebens machte der arbeitslose Schauspieler Chuck McCarthy aus seiner Not eine Tugend – und half damit sich und vielen anderen: Als „People Walker“ lädt er seit 2016 einsame Menschen dazu ein, mit ihm spazieren zu gehen. Sein Angebot richtet sich an alle, die Motivation brauchen, um das Haus zu verlassen, oder die Sicherheit eines Begleiters suchen. McCarthy selbst beschreibt diese Spaziergänge als Therapie für beide Seiten. Die Nachfrage nach seinem Service ist so hoch, dass er mittlerweile 40 Mitarbeiter beschäftigt, um einen größeren Radius in der Stadt abdecken zu können.

Großbritannien – Ministerium für Einsamkeit

Nach Regierungsangaben fühlten sich 2018 mehr als neun Millionen Menschen in Großbritannien isoliert, etwa 200.000 englische Senioren führten höchstens einmal im Monat ein Gespräch mit einem Freund oder Verwandten. Alarmierende Zahlen, die die britische Regierung zu einem bis dato einzigartigen Schritt veranlassten: Als erstes Land weltweit rief das Vereinigte Königreich ein Ministerium für Einsamkeit ins Leben, das landesweit Maßnahmen koordiniert, die Menschen aus der Isolation und Anonymität holen sollen. Die Londoner Regierung stellt 20 Millionen Pfund für über 120 Projekte im ganzen Land zur Verfügung.

Dänemark – Leben zwischen den Häusern

Humanistische Stadtplaner wie der Däne Jan Gehl stellen den Alltag der Bewohner in den Mittelpunkt zukünftiger Stadtentwicklung. Im Zentrum steht ein „Leben zwischen den Häusern“, wie es der dänische Stararchitekt selbst beschreibt. Er fordert mehr Rad- und Fußwege in den Citys und öffentliche Plätze zum Gehen und zum Verweilen. Räume, in denen Menschen sich treffen und miteinander ins Gespräch kommen können. In vielen skandinavischen Städten wie Malmö, Stockholm oder Kopenhagen haben seine Ideen bereits Einzug gehalten. In der dänischen Hauptstadt etwa fährt heute jeder zweite Einwohner auf einem gut ausgebauten Radwegenetz mit dem Fahrrad zur Arbeit – und trifft schon morgens beim Radeln auf andere Menschen.

Japan – das Hikikomori-Syndrom

Wenn meist männliche junge Erwachsene sich plötzlich zurückziehen und den Kontakt zur Außenwelt rigoros abbrechen, spricht man in Japan vom Hikikomori-Syndrom. Es wird vermutet, dass aktuell zwischen einigen Hunderttausend und einer Million junge Leute total isoliert leben. Lange wurden sie von der leistungsorientierten japanischen Gesellschaft allein gelassen. Inzwischen gibt es für Betroffene spezielle Wohnheime zur Wiedereingliederung. Zu den Aufgaben der Bewohner gehört etwa die Mitarbeit in Cafés und Restaurants, die der Verein betreibt.

Deutschland – die Dorf­kümmerer

Im Freistaat Thüringen sorgen sich in ländlichen Gebieten sogenannte Dorfkümmerer um ältere Einwohner, die auf sich allein gestellt sind. Die ehrenamtlich Tätigen machen Hausbesuche, gehen einkaufen, begleiten die Senioren bei Terminen zum Amt oder zum Arzt und nehmen sich auch mal Zeit für einen Kaffeeplausch. Die Aktion wird mit 54.000 Euro aus einem Landesprogramm gefördert. Auch überregional leisten Ehrenamtliche in Kirche, Wohlfahrtsverbänden oder Nachbarschaftshilfe gute Arbeit gegen Einsamkeit. Freiwillige gesucht!

Jeder 2. Deutsche fühlte sich 2020 während des Corona-Lockdowns einsam.**

*Quelle: Framingham-Langzeitstudie USA
** Quelle: Redaktionsnetzwerk Deutschland

Experteninterview.

Warum er vielen Menschen das Alleinsein ansieht und was auch der Arbeitsmarkt mit Einsamkeit zu tun hat, das verrät uns Freundschaftsforscher Dr. Janosch Schobin im Gespräch.

Dr. Janosch Schobin ist Soziologe an der Universität Kassel und forscht über Freundschaft, Netzwerke und Einsamkeit als soziales Phänomen.

In zahlreichen Veröffentlichungen beschreibt er, was Freundschaft heute ausmacht, und thematisiert ihre Bedeutung als Familienersatz.

Herr Schobin, wie definieren Sie Einsamkeit?
Vereinsamung ist eine Empfindung. Ich habe den subjektiven Eindruck, dass in meinem sozialen Umfeld etwas nicht stimmt. Ich fühle mich ausgeschlossen oder habe Beziehungen, die meine Bedürfnisse nicht erfüllen. Oft, das haben meine Studien ergeben, fangen Menschen an sich zurückzuziehen, weil ihre Bindungen Makel aufzeigen. Für meine Arbeit entscheidend ist auch die Frage: Was ist, wenn ich Einsamkeit äußere? Ruft das Unterstützung hervor oder Ablehnung?

Wie erleben Sie einsame Menschen?
Die Empfindung von Einsamkeit ähnelt Schmerz. Sie kann kurz und stechend sein. Im Extremfall ist sie dauerhaft, drückend und schwer zu ertragen. Ich vermute daher, dass die Reaktionen darauf ähnlich wie die von Schmerzpatienten sind: Menschen nehmen dauerhafte Einsamkeitsempfindungen durch Kompensationsstrategien und durch Gewöhnung oft nicht mehr so deutlich wahr. Zu vermuten ist daher auch: Sie leiden an den gesundheitlichen Folgen, ohne sich das bewusst zu machen. Ich beobachte bei stark isolierten Menschen oft ein verändertes Bewegungsbild. Gleichzeitig sagen viele, dass sie sich nicht einsam fühlen. Meine These ist, dass sie ihre Einsamkeit verleiblichen. Sie wird gewissermaßen zum Teil der körperlichen Haltung der Person.

Welche Menschen sind besonders einsam?
Ich habe eine Studie über Ordnungsamtsbestattungen gemacht, wo sich keine Angehörigen finden, die die Beerdigung ausrichten. Das ist ja per se ein Indikator dafür, dass jemand am Ende seines Lebens stark sozial isoliert war. In großen Städten tritt heute bereits jeder 13. bis 15. Mann seinen letzten Weg allein an. Diese Männer haben sich häufig scheiden lassen und ihre Bindung zu den Kindern wurde gekappt. Das war üblich. Im Grunde war das emotionale Leben nach der Scheidung total ruiniert. Wenn ich aber Interviews mit Männern mache, die stark emotional isoliert leben, sagen sie dazu nichts. Ich glaube, diese Gruppe ist stark betroffen, taucht aber bisher in der Diskussion kaum auf.

Nimmt die Einsamkeit in unserer Gesellschaft zu?
Verändert haben sich eher die Gründe für Einsamkeit. Vor allem, weil die Beziehungsqualität steigt. Wir verharren nicht in unglücklichen Ehen. Wir trennen uns, verlieben uns wieder, die neuen Partnerschaften funktionieren besser. Studien belegen, dass eine gute Bindung am besten vor dem Alleinsein schützt. Früher war man eher einsam in Beziehungen, heute ist man eher einsam, weil Beziehungen fehlen. Das soziale Netz verkleinert und verdichtet sich. Der Anteil der gewählten Beziehungen an unseren elementaren Bindungen nimmt zu. Schon 2004 gehörten in Deutschland acht Prozent der Erwachsenen in die Gruppe der „Solos“ – Menschen ganz ohne direkte Angehörige wie Eltern, Kinder oder Großeltern.

Wenn Angehörige fehlen: Verändert sich die Bedeutung von Freundschaft?
Betrachtet man die Kontaktfrequenzen, werden Partner und enge Freunde relevanter. Familie und Verwandtschaft verlieren an Gewicht – dieser globale Trend ist gut zu beobachten. Aber auch weichere Daten sprechen dafür. Ich habe Freundschaftsratgeber aus mehreren Jahrzehnten ausgewertet. In den 80ern richteten sich die Ratgeber vor allem an Männer mit Tipps, wie man im Berufsleben gute Kontakte knüpft. Emotionale Unterstützung spielte keine Rolle. Mitte der 90er Jahre kamen Freundschaftsratgeber für Frauen auf – mit einem komplett anderen Freundschaftsbild: viel intimer, viel leiblicher, man kümmert sich um die andere. Auf einmal wird ein ganz anderes Bild von Freundschaft idealisiert!

Gibt es gesellschaftliche Entwicklungen, die Vereinsamung fördern?
Misslich ist, dass die Arbeitsmarktpolitik Vorrang vor der Sozialpolitik hat. Von Menschen mit intaktem sozialem Netz wird erwartet, ihr Umfeld zu verlassen und für einen Job umzuziehen – obwohl man weiß, was für Schäden Vereinsamung hervorruft. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Wir haben bis heute keine institutionalisierte Politik, die Maßnahmen gegen Einsamkeit steuert und z. B. Wohlfahrtsverbänden Finanzierungsinstrumente bereitstellt.

Herzlichen Dank für das Gespräch,
Herr Dr. Schobin!

Weiterleitung

Gut vernetzt
gegen Einsamkeit!

Das Online-Seminar „Einsamkeit“ der Audi BKK mit der Referentin Frau Dr. Franziska Kopsch vermittelt Ihnen Möglichkeiten wie Sie Ihren individuellen Weg aus der Einsamkeit finden können. Anmeldung unter:
www.audibkk.de/gesundheit/seminar-einsamkeit

Weitere Themen:

Gemeiner Steinpilz

Pilze sammeln.

In Corona-Zeiten entdecken die Deutschen eine alte Leidenschaft neu: Pilze sammeln hat Hochsaison. Auch die Audi BKK zieht es hinaus in den Wald.

Mehr

Moon Milk mit Blütenblättern

Moon Milk.

Lernen Sie das Trendgetränk 2020 kennen: Die Moon Milk ist gesund, lecker, farbenfroh und hilft beim Einschlafen. Probieren Sie unsere Rezepte aus.

Mehr

tags

weitersagen